Die autonome Republik Bergkarabach

Ich stehe an den südöstlichsten Ausläufern des Kleinen Kaukasus und blicke um mich. Die zerklüftete Landschaft gegen Westen wird von den schneebedeckten Gipfeln begrenzt, welche wir wenige Stunden zuvor überquert hatten. Hinter mir im Norden liegen die Überreste der Stadt Tigranakert. Von hier aus ist lediglich das Kloster zu sehen, das auf dem Hügel oberhalb der heutigen Ausgrabungen den physikalischen Gesetzen trotzt, am äussersten Ende des Abgrunds. Und direkt vor mir, hinter den Schützengräben liegt eine weite Grasebene mit rostigen Panzerüberresten und den Ruinen einer einstigen Stadt mit 100’000 Einwohnern: Aghdam.

Schützengräben, Panzer und in der Distanz die Überreste Aghdams

Schützengräben, Panzer und in der Distanz die Überreste Aghdams

Vielleicht erinnern sich einige von euch an den Krieg in der Region Bergkarabach, dem Grenzland zwischen Armenien und Aserbaidschan, der sich etwa zur selben Zeit wie der Bosnienkrieg ereignete. 20 Jahre ist das nun her, aber der Konflikt ist noch immer nicht beigelegt. Wenige Kilometer weiter im Osten liegt noch heute die mit Landminen gespickte Frontlinie, beidseitig von jungen Soldaten mit altem russischem Kriegsmaterial bewacht. Immer wieder kommt es zu tödlichen Zusammenstössen, zuletzt 2010-11. Die Spannungen zwischen den beiden Völkern ist noch immer präsent und macht die Nachkriegszeit gleichzeitig auch zur Vorkriegszeit.

Die Region war schon immer Teil wechselnder Grossreiche. Perser, Osmanen und Russen bestimmten zeitweise über das Gebiet. Der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte und ist u.a. beeinflusst von dem Völkermord 1915/1916 in der Türkei, als die jungtürkische osmanische Regierung unter dem Deckmantel des ersten Weltkriegs hunderttausende von Armeniern verschwinden liess. Viele flohen damals in die Region Bergkarabach, wo nebst den bereits früher angesiedelten Armeniern auch viele der Türkei gegenüber freundlich gesinnte (da muslimische) Azeris lebten. Die Konflikte waren vorprogrammiert und mehrten sich, als sich zunehmend Land- und Wasserknappheit bemerkbar machten. 1918 ernannten sich Armenien sowie Aserbaidschan, welche zuvor dem Russischen Kaiserreich angehörten, unabhängig und beide erhoben Anspruch auf Bergkarabach. Die darauf folgenden Konflikte erreichten ihren traurigen Höhepunkt als im März 1920 die gesamte armenische Hälfte der Bevölkerung der Stadt Shushi von den türkischen Einwohnern und aserbaidschanischen Soldaten umgebracht wurde. Von den rund 22’000 armenischen Einwohnern (Zählung von 1914) blieben 1921 ganze 300 übrig.

Restaurierter Panzer als Denkmal, dahinter auf den Hügeln liegt Shushi

Restaurierter Panzer als Denkmal, dahinter auf den Hügeln liegt Shushi

Armenien und Aserbaidschan, sowie auch Bergkarabach, traten 1920 der Sowjetunion bei und die Lage beruhigte sich danach etwas. Tatsächlich verkündete Stalin im Dezember selben Jahres den Verzicht Armeniens und die Bereitschaft der Regierung Bergkarabachs zur Zugehörigkeit Aserbaidschans. Die Armenier, welche eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bildeten, waren mit dem Entscheid jedoch unzufrieden. Kurz vor dem Zerfall der UdSSR 1991 flammte der Konflikt erneut auf, da sich die Einwohner Bergkarabachs für einen Zusammenschluss mit Armenien stark machten.

Wer etwas Recherche betreibt, findet unzählige schreckliche Geschichten rund um den jüngsten Konflikt der sich grob von 1988 bis 1994 zugetragen hatte. Auch wenn nur die Hälfte davon wahr wäre, bleibt eine unerträglich grosse Anzahl an Gräueltaten. Beide Seiten verübten wiederholt Massaker und Pogrome an der gegnerischen Zivilbevölkerung, ca. 30’000 Menschen starben, über 1 Mio. Menschen mussten ihre Heimat verlassen.

Der gegenseitige Hass schien dabei mehr und mehr aufgewiegelt zu werden. Wurde eine gegnerische Stadt erobert und die Zivilbevölkerung bestenfalls vertrieben, folgte die totale Zerstörung der Ortschaft um eine Wiederansiedlung des Feindes zu verhindern. So auch geschehen in Aghdam, das von den Armeniern 1993 erobert und zerstört wurde. Das einzige noch halbwegs intakte Gebäude der Stadt ist interessanterweise die Moschee, auf dessen Minarett ich stehe und mich umsehe. Der Anblick ist überwältigend: Rundherum bietet sich ein Bild der Zerstörung, als hätte eine Atombombe eingeschlagen und alles Leben vernichtet. Die Stille über der Stadt ist kaum zu ertragen. Kein Mensch ist zu sehen, lediglich die improvisierten Abgrenzungen aus alten Automotorhauben und Bettrahmen zeugen von etwas Leben in dieser Geisterstadt. Es sind Bauern, die in einigen der Häusern ihre Kühe und Schweine halten.

Virtuelle Aussicht vom Minarett, benutzt die Pfeiltasten und die Maus zum Navigieren. Auch die Zoomfunktion (+, -) ist spannend! (Installation eines Viewers notwendig – passiert automatisch) 

 

Auf dem Weg zur Moschee in Aghdam

Auf dem Weg zur Moschee in Aghdam

Die Sicht vom Minarett ist überwältigend, Ruinen soweit das Auge reicht

Die Sicht vom Minarett ist überwältigend, Ruinen soweit das Auge reicht

Interessanterweise ist ausgerechnet die Moschee das einzige noch intakte Gebäude

Interessanterweise ist ausgerechnet die Moschee das einzige noch intakte Gebäude

Die Stadt wurde vollständig ausgeschlachtet, nur noch die Häuserruinen sind übrig

Die Stadt wurde vollständig ausgeschlachtet, nur noch die Häuserruinen sind übrig

Die Natur ist auf dem Vormarsch, in den Ruinen und Bombenkratern wachsen Feigenbäume und Brombeerbüsche

Die Natur ist auf dem Vormarsch, in den Ruinen und Bombenkratern wachsen Feigenbäume und Brombeerbüsche

Zurück in der Hauptstadt Stepanakert besuchen wir den Markt sowie das Monument Tatik Papik, welches 1967 errichtet wurde und den Krieg unbeschadet überstanden hat. Es steht als Symbol für die de-facto Unabhängigkeit der Republik Bergkarabach, aber auf dem Fussballplatz trainiert eine Nationalmannschaft, die für kein Turnier zugelassen wird, weil niemand ausser Armenien Bergkarabach für eine Nation hält.

Sie haben nicht viel, die Einwohner Karabachs, übrigens praktisch allesamt Armenier – alle Azeris wurden nach 1994 vertrieben. Aber sie sind gutmütig und gastfreundlich, tischen uns Kaffee auf und lassen uns nicht bezahlen. Wir decken uns beim Markt für die Weiterfahrt mit der lokalen Spezialität ein: Zhingalov Khats, ein mit frischen Kräutern gefülltes Fladenbrot.

Marktfrau mit den feinen Zhingalov Khats

Marktfrau mit den feinen Zhingalov Khats

Tatik Papik (We are the mountains) wurde 1967 von einem armenischen Künstler installiert und steht für die Unabhängigkeit Karabachs

Tatik Papik (We are the mountains) wurde 1967 von einem armenischen Künstler installiert und steht für die Unabhängigkeit Karabachs

Hügeliges Umfeld: Die Hauptstadt Stepanakert

Hügeliges Umfeld: Die Hauptstadt Stepanakert

Viele leben hier mit einfachsten Mitteln, bauen langsam aber sicher die zertrümmerten Städte wieder auf. In den allseits präsenten Sowjet-Wohnblocks, sogar in den grösseren Städten wie Shushi, ragen selbstgebastelte Kamine horizontal aus den Fenstern, puffen schwarzen Rauch in die kalte Abendluft. Zentralheizungen gibt es hier nicht. Auf den Balkonen türmen sich die Holzvorräte für den nahenden Winter. Bereits jetzt hat es Frost am Morgen. Es beginnt die Zeit, in der sich alle mit dem selbst gebrannten Maulbeervodka warm halten. Wir kaufen etwas davon, abgefüllt in einer alten Sprite Flasche.

Gefrorene Wäsche am frühen Morgen in Shushi

Gefrorene Wäsche am frühen Morgen in Shushi

Xavier wusste leider bis zum Schluss nicht, was dieser Mann ihm sagen wollte

Xavier wusste leider bis zum Schluss nicht, was dieser Mann ihm sagen wollte

Arbeit zu finden ist schwierig in Bergkarabach, Industrie gibt es kaum mehr. Niemand will in eine solch instabile Region investieren. Die perfekten Strassen in Stepanakert werden von der armenischen Diaspora u.a. aus Russland und den USA gesponsert. Armenien hat den Krieg vor 20 Jahren gewonnen und das Land erfolgreich besetzt gehalten. Der Sieg hat symbolischen Charakter, da die Armenier zum ersten Mal seit 500 Jahren Land dazugewonnen statt verloren haben – das geben sie so schnell nicht wieder her. Und so unterstützt das arme Armenien das noch ärmere Karabach.

Mit unserem kleinen 4×4 Lada Mietauto fahren wir weiter in den Norden und passieren dabei immer mal wieder ausgebrannte Panzer am Strassenrand, stumme Zeugen eines noch immer andauernden Konflikts. Daneben Grabsteine mit den gravierten Konterfei der Soldaten, die in dem Gefährt ums Leben kamen. Die meisten starben 1992.

Überreste eines armenischen Panzers am Wegrand zum Kloster Dadivank

Überreste eines armenischen Panzers am Wegrand zum Kloster Dadivank

Die Gravur lässt keine Zweifel offen, wie dieser Mann gestorben ist

Die Gravur lässt keine Zweifel offen, wie dieser Mann gestorben ist

Der Krieg in Bergkarabach ist irgendwie stets gegenwärtig, sei es durch die Schilder am Strassenrand welche eine Landminen-freie Zone versprechen, oder die vielen leerstehenden Häuserruinen ganzer Dörfer, die die Natur langsam wieder zurückerobert. Aber auch durch die vielen Schützengräben und Schiessscharten die sich durch die Landschaft ziehen und teilweise immer noch in Verwendung sind. Wir sprechen ein paar Soldaten an, die zwischen ihren Panzern gerade zu Mittag essen. Viele sind um die 20 Jahre alt, sprechen aber wenig bis kein Englisch. Wir finden heraus, dass viele aus Armenien kommen und hier 17 Monate im Einsatz sind. In der Ferne sehen wir farbige Markierungen an den uns umgebenden Hügeln, Übungsziele für die grosskalibrigen Panzerkanonen.

Mögen keine Fotos: Panzereinheiten in der Nähe von Aghdam

Mögen keine Fotos: Panzereinheiten in der Nähe von Aghdam

Über das ganze Land verteilt finden sich Häuserruinen und ganze zerstörte Dörfer

Über das ganze Land verteilt finden sich Häuserruinen und ganze zerstörte Dörfer

In den wenigen Tagen, die wir hier verbracht haben, durchquerten wir die unterschiedlichsten Landschaftstypen. Vom schneebedeckten Pass zu Beginn, durch komplett bewaldete Berge und zerfurchte Täler bis zu den Ausläufern des Kleinen Kaukasus, wo die Hügel weicher werden und die Graslandschaft der Aghdam Ebene beginnt. Dann wieder hoch in den Norden bis zum Sarsang Stausee, welcher durch das bis zu 3700m hohe Mrav Gebirge begrenzt wird, weiter durch enge Täler aus massivem Fels sowie zunehmend braunen, baumlosen und schafgespickten Hügeln. Schlussendlich erreichen wir auf über 2400m den Sotk Pass, passieren die Zod Goldmine auf der Passhöhe und sind somit zurück in Armenien.

Kurz nach der Grenze nach Karabach: Der Schnee kommt näher

Kurz nach der Grenze nach Karabach: Der Schnee kommt näher

Zum Glück sind wir mit groben Winterpneus unterwegs

Zum Glück sind wir mit groben Winterpneus unterwegs

Erinnert teilweise an schweizer Landschaften

Erinnert teilweise an schweizer Landschaften

Sarsang Stausee - Die Berge dahinter bilden die aktuelle Grenze zu Aserbaidschan

Sarsang Stausee – Die Berge dahinter bilden die aktuelle Grenze zu Aserbaidschan

Wir folgen dem Zufluss des Sees stromaufwärts

Wir folgen dem Zufluss des Sees stromaufwärts

Die dazwischen immer wieder auftauchenden Kloster und Festungen bieten eine willkommene Pause der Reise auf den teils unbefestigten holprigen Strassen. Speziell erwähnenswert sind dabei die Überreste von Tigranakert, einer während vielen Jahrhunderten bewohnten Stadt an den Ufern des Flusses Khatschenaget. Ausgrabungen legen nahe, dass die Siedlung vom 1. Jh.v.Chr. bis zum 14. Jh.n.Chr. existiert haben soll und nach einem wohlüberlegten Plan erbaut worden sei. Auch architektonisch soll sie ein Meisterwerk dargestellt haben.

Kloster der Stadt Tigranakert, am Rande des Abgrunds

Kloster der Stadt Tigranakert, am Rande des Abgrunds

Auch Karabachs Vorzeigekloster Gandzasar (erbaut 1216) und Dadivank waren einen Umweg wert. Dadivank soll gegen Ende des 1.Jh. durch einen Schüler des Apostels Judas Thaddäus (nicht der Ischariot) gegründet worden sein.

Kloster Gandzasar

Kloster Gandzasar

Ein Sonnenstrahl durchdringt die Weihrauchgeschwängerte Luft während des Sonntagsgottesdienstes in Gandzasar

Ein Sonnenstrahl durchdringt die Weihrauchgeschwängerte Luft während des Sonntagsgottesdienstes in Gandzasar

Die Ursprünge des Klosters Dadivank gehen bis ins 1.Jh. zurück

Die Ursprünge des Klosters Dadivank gehen bis ins 1.Jh. zurück

Viele Touristen kommen nicht in das Land, dass offiziell immer noch zu Aserbaidschan gehört, aber seit dem Waffenstillstand 1994 von den Armeniern besetzt wird. Dabei ist die Region eigentlich genau so sicher wie Armenien, sofern man sich von der Frontlinie fernhält. Und es hätte definitiv Potential von Outdoor interessierten Touristen entdeckt zu werden. Die Landschaften sind phänomenal und laden zum ausgedehnten Wandern ein. Es gibt sogar einen offiziellen 190km langen Wanderweg quer durch das Land – 14 Tage soll die gesamte Strecke dauern.

Solange aber keine langfristig zufriedenstellende Lösung des Konflikts in Sicht ist, dürfte die Gegend wohl weiterhin abseits der Touristenpfade bleiben.