Nora:
Ein letztes Winken am Busbahnhof von Yerevan und schon entschwindet Miguel aus meinem Blickfeld. Komisch, plötzlich so alleine unterwegs zu sein. Nicht dass ich das Alleinreisen nicht gewohnt bin, aber nach dem intensiven Zusammensein, ja auch dem aufeinander angewiesen sein, komme ich mir doch sehr einsam vor. Die schöne armenische Landschaft bringt mich auf andere Gedanken und die fröhlichen Frauen, die mit mir in der Marshrutka nach Tbilisi sitzen, teilen ihr Essen mit mir und stellen sicher, dass der Grenzübertritt nach Georgien reibungslos klappt. In Tbilisi gehe ich zurück ins Guesthouse von Maia, sie freut sich über das Wiedersehen mit mir. Die Hauptreisezeit scheint vorbei zu sein, ich sehe fast keine Touristen mehr in Tbilisi und so streife ich alleine nochmals durch die georgische Hauptstadt. Nach einer kurzen Nacht fliege ich noch bei Dunkelheit aus Tbilisi weg und lande zwei Stunden später in Istanbul, wo wegen der Zeitverschiebung der Tag erst gerade begonnen hat. Fünf Stunden im Transit auf türkischem Boden, der Flughafen Sabiha Gökhen ist nicht gerade der Hit, doch ich freue mich über die Begegnungen mit den freundlichen Türken und stelle fest, dass noch vieles von unserem Survival-Türkisch-Wortschatz präsent ist und hänge meinen Gedanken nach. Was Miguel wohl gerade macht? Was mich zu Hause erwartet?
Der Bildschirm an meinem Abfluggate zeigt „BASEL“ an, die Anzeige Boarding blinkt. Seltsam, dieses Heimatwort Basel zu lesen, in das Flugzeug zu steigen, welches mich an den vertrauten EuroAirport bringt. Der Flug ist wunderschön, strahlendes Wetter während der gesamten Strecke so dass ich von meinem Fensterplatz unsere gesamte Velostrecke nachverfolgen kann: Die vielen Hügel zwischen Istanbul und Bulgarien, Belgrad, Zagreb, der See Bled mit seinem Inselchen in Slovenien, das Südtirol und die Bündner Berge, der Bodensee und am Rhein entlang nach Basel: Alles ist wunderbar zu sehen. Nach drei Stunden sind wir im Sinkflug nach Basel, drei Stunden für eine Strecke, die wir in 162 Stunden mit dem Velo gefahren sind. Irgendwie geht mir das zu schnell, meine Reisegeschwindigkeit hat sich sehr verändert. Mirjam, meine allerliebste Schwester, holt mich am Flughafen ab. Ein schönes Wiedersehen! Wie rasch wieder alles vertraut ist. Und mir doch irgendwie fremd vorkommt. Die leisen Autos. Luft, die nicht nach Abgas riecht. Perfekte Strassen. Perfekte Autos. Velowege. Saubere Vorgärten. Der Blick auf das Münster von der Dreirosenbrücke und der Schwarzwaldbrücke. Wenig Menschen auf der Strasse. Ordnung. Ruhe. Die Autos halten am Fussgängerstreifen. Die schnelle Alltagsgeschwindigkeit hier, das hohe Schritttempo der Menschen. Und das Gefühl im Bauch, dass es etwas zu schnell gegangen ist, diese Rückreise. Zehn Stunden anstelle von sieben Monaten für die Strecke zwischen Tbilisi und Basel. Wo ist meine Reiseseele hangen geblieben? Sie scheint noch unterwegs zu sein, wahrscheinlich noch immer an die Velogeschwindigkeit gewohnt.
Dennoch freue ich mich über viele Dinge zu Hause: Wiedersehen mit meiner Familie und Kennenlernen von meinen neuen zwei Neffen, stundenlanges Plaudern mit meinen Frauen, ausgiebige Zeitungslektüren, richtig guten Rotwein, frisches Körnli-Brot….ja, mein Heimaturlaub hat auch seine schönen Seiten. Ungewohnt ist es dennoch, zu Hause zu sein. Ferien sind ja immer eine Pause vom Alltag. Nun ist Reisen mein Alltag geworden und mein Kurzbesuch in der Schweiz fühlt sich wie Ferien an. Ein komisches, ungewohntes Gefühl, das ich kaum einordnen kann, denn normalerweise ist es umgekehrt.
Am Freitag folgt der Arztbesuch im Vitaliscenter, mit Marcus Baumann ist es endlich ein Sportarzt, der mein Bein genau untersucht. Ich atme auf als er meint, das Knie ist völlig in Ordnung, die Schmerzen kommen vom Oberschenkelmuskel her. Knoten im Quadrizeps-Muskel, der ja unter der Kniescheibe hindurch geht und mir dadurch Schmerzen verursacht. Er massiert den Muskel und auch Robi, unser Kollege und Physiotherapeut, drückt ganz fies aber sehr punktgenau auf diese Knoten. Mit Übungen, die ich zusätzlich zu Hause noch mache, sollte ich schon nach kurzer Zeit wieder velotauglich sein. Ich bin überglücklich, also keine langwierige Bursitis, keine kaputten Knie sondern eine Muskelüberlastung, wie sie öfters bei Sportlern vorkommt. Robi und Marcus geben mir zudem gute Tipps wie ich in Zukunft diese Knoten in den Muskeln verhindern kann. Die Veloreise kann also weitergehen!
So hole ich noch am selben Tag mein City-Velo aus dem Keller bei meinen Eltern, fahre wieder erste Strecken und freue mich, dass mein Knie immer weniger schmerzt. Nun bleibe ich noch ca. 10 Tage in der Schweiz, mache fleissig meine Übungen, aktualisiere unser Reisegepäck im Transa und im Veloplus, verbringe viel Zeit mit meinen Lieben und mache mich dann wieder auf in den Kaukasus, zurück zu Miguel und unserem Reisealltag.
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Miguel:
Es ist seltsam, plötzlich „alleine“ zu sein. Aber da uns die Zeit davonlief, mussten wir eine Entscheidung treffen – nach sechs Wochen Selbstbehandlung und abwarten/schonen sowie der darauffolgenden Behandlung resp. Ratlosigkeit der georgischen und armenischen Ärzte haben wir uns für eine Behandlung zu Hause entschieden. Die Ärzte hier haben uns klar zu verstehen gegeben, dass wir unmöglich mit dem Fahrrad weiterreisen könnten – das konnten wir nicht einfach so hinnehmen.
Wir wollen den Ärzten hier keine Unfähigkeit vorwerfen, tatsächlich wurden wir immer freundlich und kompetent behandelt. Aber es ist nun mal so, dass sie keine Erfahrungswerte in Sachen Sport haben. Kein Mensch scheint hier Sport zu betreiben. Weder sieht man irgendjemanden joggen geschweige denn Velo fahren – nicht mal Kinder. Wir erhoffen uns deshalb, dass eine zielgerichtete Physiotherapie-Behandlung in der Schweiz uns ermöglichen wird, irgendwann wieder mit den Zweirädern weiterfahren zu können. Nach Noras Beschrieb zu urteilen, scheint dies eine gute Entscheidung gewesen zu sein! Unterdessen halte ich hier die Stellung in Armenien:
Vor etwas mehr als vier Wochen waren wir hier in Yerevan angekommen. Die Stadt kennen wir mittlerweile recht gut, wissen also wo es die stärksten Espressos und frischesten Lavash (armenisches Fladenbrot) gibt. Die von türkischen, arabischen und russischen Traditionen beeinflusste armenische Küche erinnert uns teilweise an die georgische und einige Gerichte kennen wir bereits von der Türkei. So gibt es z.B. Köfte also die Hackfleischbällchen, oder Schaschliks (meist Lammfleisch) sowie einige Gerichte mit Bulgur, Auberginen oder Tomaten. Speziell ist auch die Milch-Suppe Spas, welche aus Matsun (Joghurt oder Sauermilch) in Kombination mit Minze und Koriander hergestellt wird. Übrigens soll die traditionelle armenische Küche eine der ältesten in Asien sein. Kulinarisch gesehen ist es also nicht so schlimm, hier steckengeblieben zu sein.
Auch Wettertechnisch hätten wir es kaum besser treffen können. Mehrere Wochen hatten wir täglich Sonnenschein und Temperaturen um die 20°C, sodass die Blätter an den Bäumen wunderbar herbstlich farbig leuchteten. So macht der Herbst richtig Spass!
Für letztes Wochenende plante ich mit Xavier, unserem Couchsurfing-Host eine 2-tägige Velotour um den Sevan-See. Wir nahmen die Velos in den Zug und fuhren rund 1000 Höhenmeter hinauf bis wir ca. 20km vor dem See aussteigen mussten.
Leider schlug das Wetter aber prompt um und wir kämpften uns bei Temperaturen zwischen 4 und 9 Grad, bei leichtem Dauerregen und eiskaltem Gegenwind dem Seeufer entlang. Nicht sehr spassig, aber die Begegnungen mit den Armeniern entschädigten uns für die Strapazen und liessen wieder eine Vorfreude für die (hoffentlich) kommende Weiterreise mit Nora aufkommen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Menschen auf Veloreisende reagieren – sei es mit einladenden Gesten (meist zu ein paar Gläsern Vodka) von Schaf- und Kuhhirten oder ein paar gereichten Birnen von einer armenischen Reisegruppe, die mit ihren Autos einen Stopp am Strassenrand einlegten – herrlich!

Armenien besteht eigentlich nur aus Hügeln – 9%-Steigung Strassenschilder sind allgegenwärtig aber auch sehr ungenau
So hatten wir auch eine wunderbare Begegnung mit einer Familie in dem kleinen Städchen Noratus. Wir entschieden uns zuvor, trotz dem schlechten Wetter irgendwo zu campieren und waren auf der Suche nach einem Garten oder Park, wo wir unser Zelt aufstellen könnten. Aus dem Augenwinkel erspähte ich im Vorbeifahren einen kleinen Laden und wir kehrten um, erhofften uns einen guten Tip für einen Zeltplatz von dem Ladeninhaber. Tatsächlich schaute aber bereits die ganze Familie aus der Türe des Ladens und blickte uns neugierig hinterher! Mit einem Mix aus russisch, armenisch, englisch, französisch und Gesten erklärten wir dem Herrn des Hauses woher wir kamen und wohin wir wollten und schauten wohl ziemlich durchnässt und durchfroren drein, sodass er ziemlich bald fragte: „Schnaps?!“ Kann nicht schaden, dachten wir uns und sassen alsbald auf eilig gebrachten Stühlen inmitten des Ladens, tranken Vodka mit Roman während seine Frau zuerst Brot und salzigen Panir (Schafskäse) auftischte, gefolgt von einem grossen Teller Bratkartoffeln und dann Dessert in Form von Bisquits und Schokolade! Wiederum unglaublich diese Gastfreundschaft! Ich zückte mein Ohne-Wörter-Buch (enthält dutzende von Abbildungen des täglichen Lebens – erleichtert die Kommunikation wenn man nicht dieselbe Sprache spricht) und liessen uns von den Kindern einige Wörter auf russisch und armenisch beibringen. Der beheizte Laden in Kombination mit der Flasche Vodka wärmte uns schön auf und wir waren bald wieder unterwegs, da es bereits eindunkelte.
Eine Übernachtungsmöglichkeit hatte sich bei der Familie nicht ergeben, nur richtungsweisende Angaben zu einem Hotel in der nächstgrösseren Stadt. Etwas ausserhalb Noratus’ passierten wir jedoch eine Art Geisterstadt, bestehend aus Dutzenden nicht fertiggestellten Häusern – sowie eines Stadions. Dazwischen rosteten einige alte Autobusse vor sich hin, es wirkte tatsächlich ziemlich gespenstisch, vor allem mit dem dazu passenden tristen Wetter. Andererseits boten die vielen leerstehenden Häuser zig Möglichkeiten, die Nacht im trockenen zu verbringen. Wir hatten die Qual der Wahl, konnten uns aber für keines der Häuser entscheiden und wählten schliesslich das halbfertige Stadion. Es war zwar baufällig, hatte aber einige gedeckte Stellen welche sich für ein Zelt eigneten.

Eingangsbereich und rechts eine Indoor-Halle, das Fussballfeld ist hinter dem Gebäude und heute ein Acker…
Voraussichtlich handelt es sich hier um ein weiteres ehrgeiziges Projekt aus der späten Sovjetzeit, welches nach dem Zusammenbruch vor 23 Jahren aufgegeben wurde und seither langsam verfällt. Leider gibt es in den Ex-UdSSR Staaten unzählige solche Beispiele, von riesigen leerstehenden Fabrikgebäuden über die meist nicht so hübschen Denkmäler bis hin zu grossflächig angelegten Parkanlagen (z.B. inmitten Yerevans), welche seither nicht mehr instandgehalten wurden und zusehends verfallen. Kein Wunder blicken daher viele ältere Menschen etwas wehmütig auf die kommunistische Zeit zurück – die schlechten Dinge vergisst man ja bekanntlich schneller.
Am nächsten Morgen, nach einer kurzen kalten Nacht, fuhren wir zurück bis nach Yerevan und trafen auf dem Weg auf einen durchfrorenen chinesischen Tourenfahrer, der mit dem Fahrrad von China aus Richtung Westen gestartet war. Es ist schon interessant, auf wie viele andere Tourenfahrer wir in den Kaukasus-Staaten gestossen sind. Dies lässt sich aber wohl darauf zurückführen, dass es weniger Strassen gibt und sich deshalb alle auf denselben Hauptverbindungen wiederfinden. Sogar jetzt, in dieser langsam aber sicher etwas ungemütlicheren Jahreszeit treffen wir immer wieder auf Veloreisende, die meisten sind aber auf dem Weg in den wärmeren Süden.