Knirschend bahnen sich unsere Fahrräder einen Weg über die steinhart getrocknete Lehmstrasse entlang des Mekong. Während der Regenzeit dürfte diese Strasse hier wohl höchstens in einem Wagen mit kräftigem Allradantrieb zu bewältigen sein. Jetzt hingegen ist die starke Sonne gerade dabei, die letzten Nebelfetzen aufzulösen und macht die Sicht frei auf die umliegende Landschaft. Den Verkehr haben wir seit einiger Zeit hinter uns gelassen. Sogar die sonst überall anzutreffenden Motorräder sind rar geworden. Es wird still um uns herum, nur noch selten durchfahren wir eines der kleinen, einfachen Dörfer, die jeweils aus einer handvoll simpler Holzhäuser auf Stelzen bestehen. Aber auch dort sind kaum Menschen anzutreffen, keine Sabaidee! rufenden Kinder mehr, scheinbar sind alle auf dem Feld um die diesjährige Maisernte einzubringen. Wir sind meist allein auf weiter Flur. Nur hin und wieder hören wir leise Stimmen aus dem Teak- oder Bambuswald, gefolgt von dem hackenden Geräusch eines Beils auf Holz.
Kurz darauf raschelt es direkt vor uns aus einem Bambushain am Waldrand. Automatisch verlangsamen wir unsere Fahrt. Bereits zweimal mussten wir heute einer Schlange ausweichen, welche direkt vor unseren Rädern die Strasse kreuzten. Dem Grad nach wie laut es raschelt und wie stark sich die hochgewachsenen Bambusstangen hin- und herbewegen, muss es sich diesmal wohl mindestens um eine ausgewachsene Königskobra in der Grösse eines kleinen Elefanten handeln. Doch zum Glück weit gefehlt, zum Vorschein kommen statt dessen drei kleine Mädchen die uns, ihren Blicken zufolge, wohl eben so wenig erwartet haben, wie wir sie. In der Hand halten sie kleine Schlingen und selbstgebastelte Steinschleudern. Ihre Beute baumelt in einer anderen Hand: mehrere kleine Vögel in der Grösse von Spatzen. Auch hier gibt es kein Sabaidee! wie wir uns das von den Kindern entlang den Hauptachsen gewohnt sind. Wohl bekommen sie hier kaum je Touristen zu Gesicht und wurden von den Eltern und Grosseltern nicht entsprechend dazu animiert. Schnell machen sie sich davon und hinterlassen im Staub einer der toten Vögel, der unbemerkt auf den Boden gefallen ist.
Nachdenklich über diese plötzlich einleuchtende Erklärung, weshalb es in Laos trotz üppiger Vegetation kein Vogelgezwitscher gibt, setzen wir unseren Weg fort und werden alsbald erneut von dichtem Dschungel verschluckt. Erfreut stellen wir fest, dass es sich diesmal sogar um Primärwald handelt, ein dichtes Gewirr von Bäumen und Büschen, Lianen und Farnen. Aber leider auch hier ohne Vögel, ohne Geräusche, ein toter Wald könnte man meinen. Doch nicht ganz: Versunken in unseren Gedanken bemerken wir die Schlange, die quer über der Strasse direkt vor unseren Rädern herumkriecht, leider etwas zu spät. Während ich das Vieh mit einem Schlenker noch umfahren kann, bleibt Nora nichts anderes übrig als einen Vollstopp einzulegen. Was auf der unbefestigten Strasse, in Kombination mit dem schweren Tourenrad im Schuss leider dazu führt, dass die Räder blockieren und das Vorderrad zur Seite abrutscht. So landet sie also zum zweiten Mal auf dieser Reise unsanft auf dem Boden und fällt der Länge nach in den Strassenstaub. Meine Sorge, dass sie sich ernsthaft verletzt haben könnte, erweist sich als unbegründet: Nachdem der erste Schock abgeklungen ist, schickt sie dem inzwischen längst verschwundenen Tier prompt noch ein paar unartige Fluchwörter hinterher. Das frustrierende an der Sache jedoch ist, dass sie just an diesem Tag auf die sonst stets montierten Velohandschuhe verzichtet hat und jetzt entsprechend nicht nur das Knie und den Unterarm, sondern auch noch gleich beide Handballen blutig aufgekratzt hat. Zumindest kommt so endlich mal unsere Reiseapotheke zum Einsatz – eines der Utensilien zu denen wir manchmal gemischte Gefühle hegen. Einerseits sind wir froh für alle Fälle vorgesorgt zu haben, andererseits benötigen wir die mit Medikamenten, Verbandszeug und Salben gefüllten, schweren, Platz brauchenden Tupperwarebehälter äusserst selten. Wofür wir ja aber eigentlich wiederum dankbar sind.
Szenenwechsel Thung Chang, Thailand. Wir haben die laotisch-thailändische Grenze hinter uns gelassen und sind erfolgreich auf die linke Strassenseite gewechselt. Die vergangenen Tage waren geprägt von unerbittlich steilen Strassensteigungen und ebenso steilen Gefällen, was alles zuvor erlebte in den Schatten stellte und wir manchmal nur noch stossen konnten. Die Strassen scheinen hier senkrecht zum Hang gebaut worden zu sein. Nicht selten kam es vor, dass wir in einer einzigen Kurve über 20m an Höhe gewannen und dann am Abend ungläubig eine durchschnittliche Steigung von 10% vom Velocomputer ablasen.

Hügel sind wir uns ja bereits gewohnt, doch nirgends waren die Anstiege so steil wie auf dieser Etappe – kaum zu bewältigen. Nora hat bereits einen kleinen Teil des Anstiegs hinter sich.
Da kam uns der Italiener Marco gerade recht, der in Thung Chang zusammen mit seiner thailändischen Frau vor sechs Jahren ein gemütliches Guesthouse mit einfachen, kleinen Bungalows aufgebaut hat. Er versorgt uns nebst vielen Informationen mit leckeren Pastagerichten und vermittelt uns Tags darauf seinem Freund Maa, der in einer der umliegenden Hmong Siedlungen Dorfchef ist. In jenem kleinen Dorf dürfen wir am Nachmittag die Neujahrsfeierlichkeiten der Hmong hautnah miterleben. Den freundlichen, aber erstaunten Blicken der Dorfbewohner zu urteilen, verirrte sich wohl kaum je zuvor eine Langnase in dieses Sackgasse-Dorf mit knapp 500 Einwohnern. Wir fühlen uns jedoch wohl und geniessen das lokale Ambiente, beobachten die Mädchen in ihren traditionellen farbenfrohen Hmong Kleidern und bringen von Maa einige Details über das Ballspiel in Erfahrung. Einige Witwen und Witwer haben sich hier auf dem Dorfplatz versammelt und werfen einen kleinen Ball zwischen ihnen hin und her. Normalerweise wird diese Tradition unter den Jugendlichen des Dorfes zelebriert um miteinander ins Gespräch zu kommen, erzählt uns Maa. Doch in diesem Fall würde den verstorbenen Ehepartnern der verwitweten Frauen und Männern gedacht um mit deren Seelen in Kontakt zu treten. Die Hmong sind auch heute noch meist animistisch geprägt, sofern sie nicht zu einem anderen Glauben, meist dem Christentum, konvertierten.
Wieder zurück in Thung Chang, auf der neu ausgebauten vierspurigen Hauptstrasse, stoppen wir noch kurz bei einem kleinen Laden um eine Papaya zu kaufen. Mit dem Gedanken im Kopf, dass in Laos eine Papaya umgerechnet ca. 1 Franken kostete, reicht Nora der Verkäuferin eine 50 Baht Note, nachdem diese alle fünf Finger an der Hand in die Höhe streckte, um den Preis anzuzeigen (50 Baht entsprechen ca. 1.60 Franken). Nora wendet sich bereits zum gehen, als ihr die Frau wild gestikulierend bedeutet noch zu warten und wiederholt alle fünf Finger zeigt. Wild kramt sie in ihrer Kiste unter der Ladentheke und bringt schliesslich 45 Baht hervor, welche sie uns lächelnd herausgibt und Nora zudem gleich noch eine zweite Papaya in die Hand drückt. Free, free! meint sie nur und strahlt übers ganze Gesicht.
Tags darauf erreichen wir die Ortschaft Nan wo wir Weihnachten verbringen. Mit dem Einrollen in diesem Ort schliesst sich für uns ein Kreis, welcher vor über vier Jahren begonnen hat. Hier, im selben Guesthouse wo wir nun einchecken, haben wir damals Mireille und Roger getroffen. Wir hatten gerade unsere einjährige Reise begonnen – sie standen am Ende einer zweieinhalbjährigen Veloreise. Damals noch unbewusst haben sie etwas in uns in Gang gesetzt, einen Prozess gestartet welcher uns, als wir wieder zu Hause waren, wieder einholte und uns schliesslich dazu bewegte, ebenfalls mit dem Fahrrad loszuziehen. Nun sind wir also wieder in Nan, diesmal selbst mit dem Velo eingerollt und andere Traveller staunen über uns wie wir damals über Mireille und Roger staunten. Wir erleben dieselben Szenen wie damals vor vier Jahren, nur mit vertauschten Rollen.
An just jenem Tag, an dem wir in Nan einrollen, sind wir seit 20 Monaten unterwegs. Ein idealer Moment um zurückzublicken auf eine erlebnisreiche Zeit. Wir lassen das Jahr 2014 nochmals vor unserem geistigen Auge Revue passieren, ein Jahr welches wohl für immer in unserer Erinnerung präsent bleiben wird.
Begonnen hat unser Jahr in der heissen Ebene der Provinz Khuzestan im Iran. In dieser historisch bedeutsamen Region, wo einst der römische Kaiser Valerian gefangen gehalten wurde und tausende seiner Legionäre in Fronarbeit schufteten, sassen wir etwas einsam und verlassen in dem grossen Hotelrestaurant in Shushtar, bekamen wie gewohnt Reis und Hühnchenspiesse aufgetischt und begrüssten als einzige weit und breit das neue Jahr, da im Iran der Jahreswechsel jeweils im März stattfindet. So ähnlich muss es wohl den armen Legionären gegangen sein, fernab der Heimat, alleine in einer völlig fremden Welt. 365 Tage später sind wir glücklich und gesund in Thailand. Dazwischen durchquerten wir verschiedene Wüsten im Iran, den Emiraten, Oman und Zentralasien, sowie dichten, grünen Dschungel in Südasien. Erlebten Temperaturen von fast 50°C in Usbekistan und um 0°C in den Zeltnächten im tadschikischen Pamirmassiv. Atmeten Seeluft auf Meereshöhe und bekamen kaum Luft auf 4’700m. Der Wind, meist unser ständiger Begleiter, wird uns speziell im Death Valley des Pamir in Erinnerung bleiben, als wir müde und erschöpft wegen dem sturmartigen Gegenwind kaum imstande waren, die Steigung zur tadschikisch-kirgisischen Grenze zu erklimmen. Als uns schliesslich ein aus dem Nichts auftauchender Pick-up mitnahm, konnten wir es kaum fassen – der wohl grösste glückliche Zufall dieses Jahres. Wir sind dankbar, ohne grössere Zwischenfälle tausende von Kilometern geradelt zu sein und medizinisch zweifelhaft ausgestattete Länder gesund durchquert zu haben.
Wir lernten mit unterschiedlichem Erfolg persische, arabische, kyrillische und chinesische Buchstaben und Zeichen zu entziffern und versuchten uns in jedem bereisten Land einen Basiswortschatz anzueignen.
Besonders gerne denken wir zurück an die atemberaubenden Landschaften im Oman und Tadschikistan, die umwerfend schönen Bauwerke sowie die hilfsbereiten und aufopfernden Menschen im Iran, wie auch die gastfreundlichen Tadschiken, welche uns auf unserer Zeltplatzsuche niemals abwiesen. Diese Länder zählen für uns zu den absoluten Highlights des vergangenen Jahres. Weitere für uns unvergessliche Momente waren die Überfahrt mit der Fähre zurück in den Iran, das Erreichen von China auf dem Landweg sowie die Zeltnacht auf der Grossen Mauer. Nebst diesen speziellen Erlebnissen sind es aber auch nach 20 Monaten noch immer die unzähligen Begegnungen, die uns am meisten berühren, bereichern, anspornen und nachdenklich machen. Monatelang waren wir meist fernab von anderen Touristen unterwegs, das langsame, zeitlose Reisen ist für uns Alltag geworden. Erst hier in Südostasien durch einige Gespräche mit Touristen, die lediglich für ein paar Wochen versuchen dem Alltag zu Hause zu entfliehen, wird uns unser Privileg wieder bewusst. Das Privileg Zeit zu haben, die Welt erkunden zu dürfen (ja überhaupt die Möglichkeit dazu zu haben), Menschen und Kulturen kennen und schätzen zu lernen, alte Gewohnheiten und Einstellungen umzukrempeln und neu zu überdenken. Vieles, was auf der Welt geschieht, verstehen wir nun besser, neue Puzzleteile fallen ineinander und ergeben ein neues Gesamtbild. Historisch bedingte oder aktuelle internationale Beziehungen oder Spannungen machen plötzlich Sinn. Die Begegnungen mit den Menschen dieser Welt sind es, welche uns am meisten inspirieren, unseren Horizont wieder ein Stückchen weiter öffnen und uns frei machen für Neues, Unentdecktes – aber auch für Altes, Vergessenes.
Wir freuen uns auf das bevorstehende Jahr, besonders weil wir dieses Mal noch weniger wissen, wohin es uns führen wird. Wie auch immer es kommen mag und wohin auch immer es uns bringen wird – wir sind gespannt. Euch, liebe Blogleserinnen und Blogleser danken wir für euer virtuelles Mitreisen in diesem Jahr, eure Gedanken und Mitteilungen haben unsere Reise ebenfalls sehr bereichert. Wir hoffen ihr bleibt auch weiterhin am Ball, respektive Hinterrad, und wünschen euch ein zufriedenstellendes neues Jahr!