Ein Mitgrund, weshalb wir Athen als nächste Zwischendestination ausgewählt haben, war eigentlich die Hoffnung, dort am südöstlichsten, äussersten Rand Europas noch am ehesten einen sanften Einstieg in die „westliche Welt“ zu haben. Es ist jedoch fast schon erschreckend, wie anonym und unentspannt schon nur Griechenland wirkt, wenn das Land nach einer Abstinenz von fast drei Jahren von Osten her kommend bereist wird.
Unser Flugzeug setzt nach einer Freinacht zu einer äusserst unchristlichen Zeit um 04:30 Uhr am Athener Flughafen auf. Etwas zerknautscht sammeln wir unser Gepäck und die Velokisten zusammen, stellen fest dass alles unbeschadet angekommen ist und holen uns zwei Gepäcktrolleys. Doch nanu? Die Trolleys werden nur gegen Bezahlung von einer Ein-Euro Münze freigegeben! Ist da nun etwa schon zum ersten Mal spürbar, dass Griechenland dringend Geld benötigt? Viele der Passagiere stehen etwa gleich ratlos wie wir vor dem Münzschlitz und reiben sich erst mal den Schlaf aus den Augen. Gegenüber vielen iranischen Mitreisenden haben wir zum Glück einige Euronoten dabei, von welchen wir eine davon am Münzautomaten in einen (ziemlich schweren und unhandlichen) Münzberg verwandeln können. Der Grossteil der auf dieser Reise bereisten Länder hatten kaum oder gar keine Münzen im Umlauf, was ich als sehr angenehm empfand. Kaum ist man in Euro-Ländern unterwegs, dauert es einen halben Tag und man hat eine grosse Anzahl an unbrauchbaren Euro-Cents in der Tasche, die man kaum mehr loswird.
Der Flughafen wirkt verwaist als wir uns einen guten Platz suchen, um die Velos wieder fahrtauglich zu machen. Aber Moment! Riecht es hier nach Kaffee? Wir folgen unseren Nasen und finden uns schon bald in der Flughafen-Cafeteria wieder, bewundern erst und testen dann die unglaublich lecker wirkende Auswahl an Croissants, Brötchen und Sandwiches. Herrlich, wie haben wir doch diese Käffele-Kultur vermisst!
Ein paar Stunden später rollen wir durch das Einbahnstrassenchaos der hügeligen Athener Altstadt und suchen unsere für einmal vorgebuchte Unterkunft, wo wir die nächsten paar Tage bleiben werden. Über AirBnB haben wir uns eine kleine Wohnung gemietet und können auf diese Weise den wirtschaftlich gebeutelten Griechen direkt etwas unter die Arme greifen. Antonia und ihre beiden erwachsenen Söhne Stefanos und Manolis heissen uns herzlich willkommen, zeigen uns die Wohnung und ziehen sich dann sogleich europäisch korrekt zurück („um uns unsere Ruhe zu geben“) – so viel Rücksicht auf unsere Bedürfnisse hat schon laaange niemand mehr genommen (wir waren eingestellt auf einen längeren Schwatz und dazu Tee und vielleicht ein paar Snacks, Datteln, Nüsse, Baklava, was auch immer) und wir bleiben etwas perplex alleine in der einsamen Wohnung zurück. Immerhin hat sie einen Cake als Begrüssungsgeschenk in der Küche zurückgelassen und wir zelebrieren unsere Rückkehr nach Europa halt in zweisamer Einsamkeit.

Antonia verwöhnt uns eines Abends mit einem leckeren griechischen Gericht: Moussaka. Aber sie drückt uns die Schale zwischen Tür und Angel in die Hand und ist schon wieder weg. Gemeinsames Essen?
Einsam – uns fällt verstärkt auf, wie viele Menschen hier alleine unterwegs sind als wir unser Kulturschock-Programm fortsetzen und durch die Fussgängerzone (ha! – das klappt hier wirklich, kein einziges Motorrad!) schlendern. Nebst dem, dass sich die Fussgänger-Gruppengrösse von mindestens vier bis fünf Personen im Iran (zwei davon Kinder) auf maximal zwei Personen (Kinder = 0) hierzulande verringert hat, fallen uns tausend altbekannte aber doch vergessene Dinge auf.
Die Strassencafés (!) in den Fussgängerzonen (!) sind dabei als besonders positiv hervorzuheben und wenn wir uns nicht gerade eine Eiscreme aus der Gelateria genehmigen, finden wir uns des öfteren in einem dieser Cafés wieder. Der Frühling hat in diesen Tagen Einzug gehalten, treibt die Menschen nach draussen und verwöhnt uns den ganzen restlichen Aufenthalt in Griechenland mit viel Sonne und Wärme.
So sitzen wir also da und beobachten das überraschend rege Treiben in den Strassen Athens:
Von links kommt eine Joggerin in engen Leggins vorbei, lange nicht gesehen – alles davon. Weiblich, alleine beim Sport, Sport?!, enge Kleidung die keinen Spielraum für Fantasie lässt, sowas. Während wir ihren ausgeprägten, wackelnden Pobacken mit offenem Mund nachstarren, schlendert hinter uns der nächste Knaller an: Junger Mann in Trainerhosen geht mit Hund Gassi. Spektakulär! Für Europäer (oder allgemein die „westliche Welt“ – sofern es so was gibt) vielleicht normal, für den grossen Rest der Welt jedoch ziemlich unverständlich. Nirgends haben wir jemanden einen Hund Gassi führen gesehen, die Tiere bleiben ausschliesslich als Wachhund auf dem entsprechenden Areal, haben dort genügend Auslauf und können ihr Geschäft schliesslich von selbst verrichten. Sowieso gab es kaum je Haushalte mit einem Haustier IM Haus, geschweige denn den hier so hoch gehaltenen Stellenwert.
Bei dem Thema fällt uns jeweils das einzige Mal ein, als wir jemanden mit einem Hund an der Leine gesehen haben: eine indonesische Maid, die auf Bali mit einem grossen Kalb von einem Hund unterwegs war. Sie sah gar nicht happy aus, der Hund zerrte wie wild und schleifte das arme Mädchen kreuz und quer durch die Reisfelder. Wir lachen noch heute darüber wenn wir uns ausmalen wie ihr die westlichen Arbeitgeber klarzumachen versuchten, was sie zu tun habe:
– „Eh, Maid. Kannst du mal mit dem Hund raus?“
– „Raus? Mit dem Hund? Äh, klar. Wohin soll ich denn gehen?“
– „Hm? Na, einfach ein bisschen raus. ‘Ne Runde drehen.“
Die arme Maid dürfte den Sinn kaum verstanden haben und irrt wahrscheinlich noch heute ziellos durch die Gegend.

Europäische Städte haben wirklich etwas ganz Besonderes – Athen glänzt zudem besonders in Sachen Cafés und Aussensitzplätzen – im Hintergrund die Akropolis
Auch wir irren ziellos weiter durch die Athener Innenstadt und staunen einerseits über die hohe Dichte an Bäckereien (lecker!) aber auch über das Ausmass unserer heutigen Konsumgesellschaft. Über einem Schaufenster nach dem anderen grinsen uns die einschlägigen Kleidermarkenlogos an und uns fällt wieder ein, wie austauschbar europäische Einkaufsstrassen geworden sind. Überall nisten sich die selben grossen, langweiligen Läden ein und beschallen ihre meist weibliche Kundschaft mit nerviger Konservenpopmusik. In dem Zusammenhang ist auch interessant zu sehen, wie freizügig die Mode-Werbeplakate hierzulande sind und wie sich deren offensichtlichen Einfluss auf die Gesellschaft auswirkt. Wir empfinden besonders die weibliche Gesellschaft hier als sehr angestrengt beim Thema Aussehen – von Natürlichkeit ist da nichts mehr zu sehen.

Und überall stolpern wir wieder über historische Bauten. Hier die Überreste der Bibliothek Hadrians.
Auch neu sind die vielen Strassenmusikanten oder auf Neu-Deutsch „Street-Art-Performance Artists“ oder so. Ich glaube es muss in Antalya gewesen sein als wir den letzten Strassenkünstler gesehen haben – das ist mehr als 2,5 Jahre her. Uns dünkt jedoch, dass die Athener Szene sehr bunt durchmischt ist, da wohl in den vergangenen Monaten und Jahren viele Einheimische an den Rand des Existenzminimums gedrängt wurden. So wird auch auf vielerlei kreative Art gebettelt. Eine „Künstlerin“ möchte neue Batterien für ihr Kassettengerät um für ihren anstehenden Auftritt den nötigen Boost zu bekommen. Ein altes Grosi will uns unbedingt ein Stück Stoff verkaufen, das aussieht, als wäre es jahrelang ihre Tischdecke gewesen. Andere haben allerlei Instrumente aus dem Keller geholt und versuchen damit ihr Glück. Einige halten uns einfach die hohle Hand hin. Innert zwei Tagen Athen wurden wir öfters um Geld angebettelt als auf der ganzen bisherigen Reise zusammen.
Wer nun denkt, da seien doch bestimmt viele der syrischen Flüchtlinge dabei, täuscht sich. Von Flüchtlingen ist weit und breit nichts zu sehen. Ausser einem Clan Schwarzafrikaner, welcher mit dem penetranten Verkauf von „selbstgemachten“ Freundschaftsbändeli Geld zu machen versucht, waren eigentlich alles Einheimische. Die meisten Flüchtlinge werden wohl direkt am Hafen Piräus abgefangen und erhalten keinen Zugang zur Stadt. Eine weitere, beträchtliche Anzahl Menschen harrt ja bekanntlich in Idomeni, an der Grenze zu Mazedonien aus.

Die Akropolis sparen wir uns bis zuletzt auf. Wir sind überrascht wie viele Besucher Ende März anwesend sind. Allerdings kommt mindestens die Hälfte davon von einem gerade anwesenden Kreuzfahrtschiff…

Es ist äusserst spannend, die geschichtlichen Ereignisse verknüpfen zu können. So haben ja die Perser 480 v.Chr. die Akropolis zerstört – 150 jahre später (330 v.Chr.) zerstörte Alexander der Grosse im Gegenzug die Persepolis in Persien. Im Bild das Eingangstor zur Akropolis – unserer Meinung nach steht dieses im Schatten des mächtigen “Tor der Nationen” in Persepolis.

Die Karyatiden zieren den oberen Teil einer Gruft am Gebäude Erechtheion – dem eigentlichen Hauptgebäude der Akropolis. Das allgemein bekannte, kolossale Parthenon diente lediglich als Vorzeige-Prunkgebäude.

Die Entstehung des Dionysos-Theater am Hang der Akropolis geht zurück auf das 5. Jh. v.Chr. Es bot Platz für 17’000 Zuschauer.
Leider ist es auch nicht mehr ganz so einfach mit den Menschen hier in Kontakt zu kommen, die griechische Gesellschaft ist erstaunlich europäisch-anonym. Man spricht sich nicht spontan an, es lacht auch kaum mal ein Mensch. Und das, obwohl das schöne Wetter wohl noch für eine vergleichsweise gute Stimmung sorgen müsste. Mürrisch hetzen viele hin und her, auch auf der Strasse ist die Flexibilität gesunken. Sofort wird wütend gehupt wenn jemand im Weg steht, Hände werden verworfen und Flüche sowie tiefe Stirnrunzeln geworfen. Das fällt uns enorm auf, was für eine unentspannte, ernste Welt hier herrscht. Kein Miteinander mehr, leider eher ein Gegeneinander. Bereits jetzt vermissen wir die lebensfrohe, gelassene Art des asiatischen Kontinents.
Wir denken zurück an die unzähligen Situationen, in welchen wir mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen und dabei so viel über Land und Leute erfuhren. Es wäre auch hier spannend gewesen zu erfahren, was die Griechen so über ihre aktuelle Situation denken. Aber ohne einen Hintergedanken für ein mögliches Geschäft spricht man hier niemanden an. So erfahren wir nur gerade von unserer Gastgeberin Antonia ein paar Gedanken, sie äussert sich besorgt über die Flüchtlinge in Idomeni. Von den restlichen Bewohnern können wir nur mutmassen, dass sie sich mit Shopping ablenken wollen. Die Kaufkraft scheint paradoxerweise ungebrochen.

Wir verlassen Athen per Fähre und setzen über auf die kleine Insel Salaminos. So kommen wir um das Industriegelände herum, von welchem aus der Distanz ledigich eine dicke Smogdecke zu sehen ist. Bäh.

Wir sind baff wie modern die Fähren hier sind! Zudem legen wir bereits ab, als lediglich eine handvoll Autos an Bord sind. Wenn wir da zurück an Indonesien denken…

Salaminos ist wunderschön! So viel grün und tausend Möglichkeiten anzuhalten und zu picknicken – hier unser Mittagsplätzchen.
Aber natürlich ist nicht alles an Europa schlecht, Gott bewahre. Zugegeben, sozial gesehen verarmt unser Kontinent längers je mehr und hinkt den östlicheren Ländern böse hinterher. Aber es gibt zig Vorteile, dir wir auch wieder sehr geniessen und schwer vermisst haben. So kommen wir beispielsweise wieder in den Genuss von Campingplätzen in regelmässigen Abständen. Wie einfach das Leben doch sein kann! Kein Wildcamping, kein Fragen nach Unterschlupf (auf Kosten der Kontakte mit den Einheimischen) – einfach auf das Gelände rollen, ein paar Euro zahlen, Zelt aufstellen und eine heisse Dusche nehmen. Es ist fast schon zu einfach, aber wir geniessen es mal wieder. Auch hier liegt der letzte Campingplatz weit zurück, nämlich in Göreme, Türkei, vor über 2,5 Jahren.

Alle Campingplätze liegen direkt am Meer – einige davon haben prompt per 1. April wieder geöffnet. Wir sind einige Male die ersten und einzigen Gäste.

Unser Zelt kommt nochmals so richtig zum Einsatz. Mit Klebeband haben wir die undicht gewordenen Fenster zugeklebt – ob das einen europäischen Regen übersteht bleibt abzuwarten.

Gemütlich: Ständig fahren wir wieder an einem Supermarkt oder einer Bäckerei vorbei. So müssen wir kein Proviant mehr herumfahren.

Die Feigen sind noch nicht ausgereift, aber die Zitronen- und Orangenbäume sind dicht voller Früchte

Und schliesslich: Der Schmalwurf des Kanal von Korinth. Ab sofort sind wir auf dem Peloponnes unterwegs

Wir sind besonders überrascht, wie sauber Europa ist. Nicht nur am Strassenrand, auch das Wasser ist total unverdreckt, super!
Weiterer willkommener Faktor: Trinkwasser aus dem Hahn. Wir sind uns in Europa ja so was von überhaupt nicht bewusst wie gross das Privileg ist, Leitungswasser trinken zu können. Spätestens seit dem Pamir gehen wir mit Wasser um wie mit rohen Eiern, verschwenden keinen Tropfen. Getrost können wir nun unseren treuen Wasserfilter tief in unseren Taschen verschwinden lassen, nach all den Jahren hat er nun für den Rest der Reise ausgedient – ein schönes Gefühl, war doch das tägliche Wasserfiltern nicht gerade eine unserer Lieblingsbeschäftigungen.
So erreichen wir den Hafen von Patras, von wo aus wir den Balkan per Fähre überbrücken wollen. Wir besorgen uns zwei Tickets für die Mitternachtsfähre nach Venedig – zwei Nächte und einen Tag dauert die Überfahrt auf dem modernen Mittelmeerdampfer. Das gibt uns genügend Zeit uns mit dem Gedanken anzufreunden, dass wir nun sehr bald erst recht mitten in Europa sein werden. Die Schweiz liegt nun bald nur noch ein paar hundert Kilometer entfernt, direkt nebenan, die letzte Zeitzone wird überbrückt, die Heimat rückt näher und näher. Sieben Zeitzonen haben wir aus eigener Kraft hinter uns gebracht, innert kurzer Zeit sind wir nun zurück in „unsere“ Zeit gekommen. Bleibt nur zu hoffen, dass es noch immer unsere Zeit ist.