Um 7.30h Uhr stehen wir auf dem obersten Deck der Fähre und beobachten wie wir langsam durch die Lagune von Venedig tuckern. Die Luft riecht klar, kühl und feucht – ungewohnt nach der langen Abstinenz von Zentraleuropa und doch sofort wieder gewohnt. Rechts sehen wir die Silhouette der Insel Venedig, auf der anderen Seite die sumpfige Lagunenlandschaft. Die Luft ist so klar, dass wir im Norden die schneebedeckten Spitzen der Alpen sehen. Es scheint die letzten Tage geregnet zu haben, doch glücklicherweise haben wir die Sonne aus Griechenland mitgebracht.

Auf sumpfigem Gebiet wie diesem haben sich damals die ersten Siedler auf der Flucht vor den einfallenden Barbaren niedergelassen. Mit Pfählen wurde ein stabiler Untergrund geschaffen – heute steht an jener Stelle die prächtige Stadt Venedig.

Beim Blick auf die Steuerbordseite des Schiffs entdecken wir alsbald die unverkennbare Silhouette der Lagunenstadt.
Der Fährhafen liegt leider nicht mehr auf der Insel Venedig selber, sondern etwa 15 Kilometer südlich. Wir rollen von der Fähre und entscheiden uns direkt nach Padua zu fahren. Die ersten Dörfer und Kirchen bestätigen uns, dass wir in Italien sind, der Baustil von Italien ist unvergleichlich. Bar, Panificio, Trattoria und sonstige Schilder – wir freuen uns, wieder alles lesen zu können. Flott rollen wir den Canali entlang und fahren zum ersten Mal seit Jahren wieder auf nahezu perfekt ausgeschilderten Velowegen, ein ganz anderes Fahrvergnügen. Miguel pfeift hinter mir zufrieden die Italienhymne und freut sich auf den ersten Espresso. Wir sind nicht alleine an diesem ruhigen Sonntagmorgen: Zahlreiche Velofahrer kommen uns entgegen, perfekt in Lycra gekleidet flitzen sie sportlich auf ihren Rennrädern vorbei. Oder überholen uns unverkennbar locker trampend auf E-Bikes, auch das haben wir lange nicht mehr gesehen. Ciao, Salve, Siete bravi, Buongiorno, Hello – so klingt es immer wieder und wir freuen uns über diesen Kontakt. Auch viele sind am joggen oder mit ihrem Hund unterwegs, immer wieder werden wir gegrüsst und wir fühlen uns etwas mehr willkommen als auch schon in Europa.

Das sanfte Licht der frühen Morgenstunden taucht die Umgebung in wunderbar fotogenes Licht und wir kommen vor lauter Fotostopps kaum vorwärts.

Aber es ist kalt hier! Rund 1’125km hat uns die Fähre in nordwestliche Richtung gebracht. Die Luft ist, zumindest jetzt am frühen Morgen, kristallklar und ebenso kalt.

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit gibt es mal wieder Fahrradwege. Durch die ganze Po-Ebene hindurch dürfen wir immer auf diese ausweichen.
Italien macht uns die Rückkehr nicht nur von den Menschen her einfacher, sondern auch von der Kultur. Paduas Innenstadt ist wunderschön und wir verbringen den ganzen Nachmittag mit spazieren und Caffè trinken. Viele sind unterwegs an diesem Sonntagnachmittag, endlich wieder viel Leben, Stimmen und Lachen um uns herum. Wir bemerken bald, dass wir völlig „underdressed“ sind: Mit unserer bunt und praktisch zusammengewürfelten Minimal-Kleiderauswahl stellen wir zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fest, dass wir deswegen auffallen. Der Stellenwert der Mode ist in Europa – und wohl besonders in Italien – um einiges höher als in Asien.
In Vergessenheit geraten sind für uns auch die vielen Regeln. Alles scheint hier geordnet zu sein, schon nur die Fülle der Strassenschilder zeigt an, was man tun darf oder soll oder muss oder eben nicht. Wir haben verlernt, uns an diese zu halten, denn seit Jahren sind wir uns nun gewohnt, dass es eh niemanden interessiert und man am besten einfach „mal macht“. In Padua kommen wir aber nicht weit damit, eine Einbahnstrasse gilt auch für uns, beim langsamen Fahren in der Fussgängerzone stoppen uns prompt die Carabinieri. Bei der Hotelsuche stellen wir schon beim ersten Hotel fest, dass es nicht so einfach ist mit dem Veloparking wie sonst auf der Welt: Ein Zimmer kostet 45 Euro, das Parking 10 Euro pro Velo (!). Ich muss fast schon lachen und frage, ob wir die Velos hier in der riesigen Lobby lassen dürfen? Nein. Oder ob es einen Abstellraum gibt? Nein. Dann nehmen wir die Velos mit aufs Zimmer?! Nein, das ist nicht erlaubt. Diese Inflexibilität, diese ungewohnte Regeltreue…wir können es kaum fassen und suchen uns ein anderes Hotel. Bei der nächsten Unterkunft ist es auch nicht besser, wir dürfen die Velos nicht einmal mit ins Gebäude nehmen (Verbotsschild!). Wir haben genug von den Regeln, checken dennoch ein aber nutzen die Gunst der Stunde als uns niemand sieht und tragen die Velos in unser Zimmer. Als wir am nächsten Morgen auschecken haben wir leider weniger Glück und verstehen plötzlich kein Italienisch mehr als der Portier es wenig lustig findet, dass wir mit zwei Velos aus dem Gebäude herauskommen. Wir sind froh, dass wir am nächsten Abend campieren können und unsere treuen Velos neben unserem Zelt schlafen. Am Morgen erwartet uns aber eine weitere vergessene Besonderheit Europas: Der Morgentau bedeckt unser Zelt, drückt durch unseren Zeltboden und alles ist feuchtnass. Zum Glück scheint bereits die Sonne und wir können alles trocknen bis wir losfahren.

Nebst dem, dass der Heilige Antonius zur Hilfe gerufen wird, wenn verlorene Gegenstände wiedergefunden werden sollen, ist er auch noch Schutzpatron mehrerer Städte und der Frauen und Kinder, der Ehe und der Liebenden, der Pferde und Esel, sowie der Schweinehirten, Bergleute und (ha!) Reisenden – Grund genug, den Pilgerort zu besuchen. Angeblich soll er auch noch bei der Partnersuche helfen, weswegen auch Single-Wallfahrten nach Padua angeboten werden.
Schöne Strecken auf Velowegen bringen uns weiter nach Westen. Immer wieder kreuzen wir Hauptstrassen und sind erstaunt, wie riesig die Lastwagen in Europa sind! Und wie sie schnell sind, so auch die Autos, die fast alle so teuer und neu aussehen. Auf der Strasse sind die meisten äusserst unentspannt und wirken gestresst. So biegen wir gerne wieder auf die Velowege ab, auch wenn sie manchmal zu Mountainbike Trails werden und wir ganz schön ins Schnaufen kommen mit unseren schweren Gefährten.

…führt uns aber an vielen der riesigen venetianischen Villen vorbei. Die Geschäfte müssen damals wirklich enorm gut gelaufen sein für die Kaufleute.
Bis nach Mantua sind weite Strecken ganz flach und landwirtschaftlich genutzt. Riesige Felder erstrecken sich links und rechts, Bewässerungskanäle und unglaublich viel moderne Maschinen und Geräte, anders wären wohl diese riesigen Felder nicht zu bewirtschaften. Wo sind auch alle Tiere? Wir sehen und riechen riesige Ställe, aber die Tiere sind alle drinnen. Und überhaupt die Maschinen – nirgendwo sonst wurden wir so oft von Maschinenlärm geweckt wie in Europa: Für alles scheint es eine Maschine oder ein Gerät zu geben: Rasentrimmer, Traktoren, Staubbläser, Strassenputzmaschine, Motorsäge, Hockdruckreiniger um den Pool zu putzen, Waschmaschine, Trockner, Geschirrwaschmaschine und und und. So viele elektronische Helferlein haben wir schon lange nicht mehr gesehen und gehört und doch ist es doch paradox, dass wir am Ende trotz so vielen Maschinen weniger Zeit zur Verfügung haben und gestresster sind als Gesellschaften, wo alles noch viel mehr von Hand gemacht wird.
Auf unserem Kurs in Richtung Schweiz haben wir unglaubliches Wetterglück: Tag für Tag scheint die Sonne und erst nach drei Wochen in Europa erleben wir den ersten Wolken- und Regentag. Unglaublich, bei der Wegfahrt haben wir keine drei schönen Tage am Stück geschafft! Je näher wir aber den Alpen kommen, desto unsicherer wird das Wetter und uns graut etwas, die Alpen zu durchqueren. Dennoch geniessen wir die Fahrt den italienischen Seen entlang. Der Lago di Garda gefällt uns am wenigsten, zu touristisch ist alles erschlossen und auf dem Campingplatz fühlen wir uns mit unserem Zeltlein so ziemlich fehl am Platz zwischen den perfekt ausgestatteten Deutschen und Schweizer Caravans. Nach einer Nacht sind wir rasch wieder weg. Nur die junge Deutsche an der Reception stellt uns ein paar Fragen und lässt nicht locker, bis Miguel ihr ehrlich sagt wie lange wir schon unterwegs sind. Sie ist ganz perplex und meint als erstens, ja wie macht ihr denn das mit der Wäsche?! Diese Frage haben wir nun wirklich nicht erwartet, ihre zweite Frage klingt da schon bekannter da wir sie schon so oft gehört haben, besonders von Europäern: Ist denn das nicht gefährlich?? Auf einem anderen Campingplatz erzählt uns der Besitzer beim Einchecken dass schon mal jemand mit dem Velo gekommen sei, ein junger Deutscher, der wollte bis nach Vietnam fahren. Das sei doch unmöglich so weit zu fahren!! Wir wissen gar nicht so recht was wir nun antworten sollen, weichen aus bis er nachfragt woher wir denn kämen mit den Velos. Unsere Antwort scheint ihn völlig aus der Fassung zu bringen. Es ist manchmal schwierig diese Reaktionen abzufangen, für die meisten klingt es so absurd dass wir gar nicht relativieren mögen dass eine solche Reise schon möglich ist. So geben wir nur sehr vage Auskunft wenn wir gefragt werden. Für viele ist es schon ein Wahnsinns-Act dass wir von der Schweiz aus mit dem Velo hier nach Norditalien gefahren sind….dass wir dazwischen noch einen kleinen Schlenker nach Südostasien gemacht haben, behalten wir dann meistens für uns.

Je weiter nördlich, desto mehr Schwerverkehr. Es ist nicht mehr normal wieviele riesige LKW’s durch Europa brausen!
Via Bergamo und Lago di Como nähern wir uns der Schweiz, ein komisches Gefühl. Am 8. Tag unserer Reise haben wir die Schweiz am Ende des Münstertals verlassen, nun, am 1084. Tag, stehen wir vor der Grenze in Como. Unser letzter Velotag auf ausländischem Boden haben wir hinter uns und nur noch wenige Kilometer trennen uns von der Grenze in Chiasso. Es bleibt eine kurze Strecke bis zuhause, es ist seltsam und vertraut gleichzeitig, so nahe zu sein. Umso mehr lieben wir unser Velotempo, das uns erlaubt langsam vorwärts zu kommen, auch wenn wir die Alpen mit dem Zug durchqueren werden müssen. Wir sind gespannt, wie die Schweiz auf uns wirken wird und geniessen nochmals jeden Tag der uns noch bleibt.

Seit über drei Wochen begleitet uns in Europa die Sonne – jetzt, nahe den Alpen erwischen wir erstmals ein wenig Regen.

Unterwegs nach Lecco – in der Nacht hat es geregnet, was uns einen wahnsinns klaren Tag beschert. (Fast) keine einzige Wolke!