Very much welcome to our country! ruft es aus dem offenen Fenster eines vorbeifahrenden Autos. Wir schauen hin und sehen einen Kleinwagen, aus dessen Inneren uns irgendwie zu viele Augen entgegenblicken. Wir winken zum Dank, woraufhin uns aus der dunklen Masse im Wageninneren plötzlich unzählige weisse Zahnreihen entgegen strahlen. Dazu erkennen wir natürlich die für Indien so typische, wiegende Kopfbewegung – eine Art seitwärts Nicken. (Wir scheitern noch immer beim Versuch diese Bewegung nachzumachen.)
Unzählige Vorurteile in unterschiedlichsten Ländern mussten wir auf dieser Reise bereits begraben, Indien ist in der Hinsicht jedoch wohl die grösste Überraschung. In den ersten zwei Wochen auf diesem quirligen Subkontinent erleben wir Indien total anders, als uns dies durch die Medien präsentiert wurde. Wir müssen unser Bild von Indien definitiv überarbeiten.
Allerdings hängt es voraussichtlich auch damit zusammen, dass der Süden des Landes wesentlich angenehmer zu bereisen ist als Gebiete weiter im Norden. Incredible India, der äusserst passende Slogan dieses Landes ist sehr treffend gewählt. Auf dieser riesigen Landmasse vereinigt sich eine solche Spannbreite an Landschaften und Kulturen, dass man Jahre aufbringen müsste, um sich ein annähernd komplettes Bild machen zu können. Riesige, hektische, zu den überbevölkertsten Orte der Welt zählende Städte stehen fast schon verlassenen, friedlichen Gebieten in den ländlichen Regionen gegenüber. Trockene, wüstenähnliche Abschnitte und subtropische Strände wechseln sich genau so ab wie weite, topfebene Landstriche und einige der höchsten Gipfel des Himalaya (Kangchenjunga, 8’586m, dritthöchster Berg der Welt). Rechnet man nun noch die krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich mit ein, kann man Indien also auch getrost als „Land der Gegensätze“ bezeichnen.

Der “Bügelmann” – bedient sich noch immer des gusseisernen Bügeleisens aus Grossmutters Zeiten. Beheizt wird das Modell indem glühende Kohlen in dessen Hohlraum gefüllt werden.
Für viele Fahrradreisende ist Indien eine der ultimativen Herausforderungen. Die Kombination aus Sprachbarrieren, forderndem Klima, Gesundheitsrisiken, immensem und chaotischem Verkehr sowie die unglaubliche Anzahl an ständig präsenten Menschen bringt viele an den Rand des Wahnsinns. Die Monate im in vielerlei Hinsicht ähnlichen Indonesien scheinen uns jedoch ganz ideal auf die indischen Gegebenheiten vorbereitet zu haben – bisher ertragen wir das Chaos ganz gut. Die erfreulichen Kontakte mit der überaus freundlichen Bevölkerung tragen dazu einen grossen Teil bei.
Bereits in Chennai (Madras), als wir uns einen Weg aus der Millionenmetropole zur Küstenstrasse suchen, erleben wir eine indische Freundlichkeit, wie wir sie irgendwie nicht erwartet haben. Beim Versuch die grossen Strassen zu umfahren geraten wir in einen der vielen Slums, wie sie um die Grossstädte Indiens wohl üblich sind. In den vergangenen Wochen waren hier in der Region massive Wassermassen vom Himmel gefallen, Überschwemmungen waren die Folge, viele wurden gar Obdachlos weil ihre Behausung dem starken Regen nicht standhielt. Die Slums verfügen nur selten über geteerte Strassen und einige Abschnitte stehen noch immer einige Zentimeter unter brackigem Wasser. Aus den Gullideckeln in den geteerten Nachbarschafts-Strassen gurgelt eine übel riechende Brühe. Es stinkt nach Abwasser und Kanalisation. Während viele barfüssige Fussgänger den grossflächigen Tümpeln seitwärts über die abfallgesäumten Ränder ausweichen, waten einige unerschrocken durch die Wassermassen. Für uns bleiben diese Abschnitte unpassierbar, wir wollen diese Tümpel nicht mal unseren Rädern zumuten. Andere auf der Karte eingezeichnete Strassen sind schlicht nicht vorhanden – kurzum, wir verfahren uns ein wenig.
Mit einem Blick erkennen wir, dass wir mit unserem Gepäck schon mehr besitzen als die meisten Einwohner dieses Slums je ihr Eigen nennen können. Einen Moment lang sind wir unsicher, doch rundum begegnen uns nur überraschte, freundlich gesinnte Gesichter. Die kurz befürchtete, unangenehme Situation bleibt vollständig aus. Statt dessen sprechen uns viele in teils schwer verständlichem Indi-Englisch an, fragen wohin wir denn wollen und beschreiben uns daraufhin den Weg aus dem Labyrinth. Kurze Zeit später haben wir die Enge der Slums und dessen etwas strengen, undefinierbaren Geruch hinter uns gelassen, schnaufen auf und frische Seeluft ein während wir erstmals auf die unendliche Weite des Golf von Bengalen blicken.

Am Golf von Bengalen. Ja, Kühe gibts in Indien überall. Und nein, das ist kein Hakenkreuz auf dem Boot, sondern eines der ältesten hinduistischen Zeichen.
So viele Vorurteile wir auch abbauen dürfen, einige treffen auch vollkommen zu: Kühe gibt es in Indien überall und sie haben tatsächlich eine Art VIP-Status. Sogar der Verkehr bremst für die schwerfälligen, phlegmatischen Viecher. Nebst den Schlaglöchern weichen wir jeden Tag hauptsächlich den Haufen von Kuhdung aus. Und ja, Indien ist dreckig. Abfall häuft sich an jeder Ecke, schwimmt in den Flüssen, wird durchmischt mit der Erde auf dem Acker. Nur in China haben wir noch totere Flüsse gesehen, hier sieht man doch ab und zu abfallfreie Gewässer, ein kleiner Lichtblick.
Unsere Velos haben den langen Transport gottseidank unbeschadet überstanden und wir sind froh, wieder mit unserem eigenen Transportmittel unterwegs zu sein. Während der Velo-losen Zeit in Thailand wurden wir wieder daran erinnert, wie mühsam es doch sein kann, auf die Busse und Tuktuks angewiesen zu sein. Das Fahrrad ist also noch immer unser Fortbewegungsmittel Nummer Eins! Fast drei Monate sind vergangen, seit wir das letzte Mal eine grössere Distanz mit Gepäck zurückgelegt haben. Unsere Kondition hat merklich nachgelassen und wir gehen zu Beginn möglichst kurze Tagesdistanzen an, um uns wieder an die tägliche Belastung zu gewöhnen.

Doch auch hier überrascht Indien mit einer piekfeinen Promenade, welche ab 18Uhr sogar zur Fussgängerzone wird und für jegliche Vehikel gesperrt wird. Sogar wir mit den Velos wurden sanft von der Promenade verwiesen!

Das Quartier neben der Beachpromenade ist das alte französische Viertel und etwas gehobener (und langweiliger) als das “Quartier Noir” (zwei Bilder vorher).

Den kolonialen Charme mit französischem Einschlag muss man etwas suchen – aber wir geniessen statt dessen die Croissants und Pain au Chocolats in den Boulangeries.

Die Royal Enfield – wird bis heute in Indien hergestellt und ist ursprünglich aus einer britischen Firma hervorgegangen. Royal Enfield ist heute die älteste noch produzierende Motorradmarke der Welt und der klassische Weg, Indien individuell zu bereisen…
Das Fahren auf den indischen Strassen geht recht flott, denn es ist meist total flach. Vielerorts ist sogar der Strassenbelag brandneu und gelegentlicher Rückenwind hilft uns zudem, auch mal wieder über 100km pro Tag zurückzulegen. Dies ist auch möglich, weil Indien in der hiesigen Provinz Tamil Nadu kaum landschaftliche Highlights bietet und wir weite Teile einfach „abfahren“ können. Grossflächge Gebiete sind als Anbaufläche für Landwirtschaft genutzt, hauptsächlich Reis und Zuckerrohr. Vieles liegt auch brach, der sumpfige Untergrund erschwert wohl vielerorts eine sinnvolle Nutzung.

Die Strassen abseits der Hauptachsen führen uns vorbei an sehr armen Gegenden – teilweise leben die Menschen hier lediglich in selbsgebastelten Hütten aus Palmblättern.
So finden wir uns des öfteren auf ländlichen Nebenstrassen wieder, der Verkehr schwindet auf ein Minimum und gewinnt meist erst in der Nähe einer grösseren Ortschaft wieder an Intensität. Dabei gilt es vor allem die Überlandbusse etwas im Auge zu behalten, denn auf Indiens Strassen gilt wieder das Recht des Grösseren. Und das ist dann auch die einzige Verkehrsregel in diesem Land, alle anderen Situationen werden mit der Hupe und einem Schuss Chaos gelöst. Dieser Zustand führt konsequent zu einem kräftigen und dauernden Einsatz der Hupe. Und so lärmt es in Indien von frühmorgens bis spätabends, nur nachts wird es interessanterweise mucksmäuschenstill. Dennoch, ohne unsere Papierstöpsel in den Ohren würden wir keinen Tag auf Indiens Strassen überleben!

Ideale Bedingungen: Flache, verkehrsarme Strassen mit gutem Belag führen von der Küste weg ins Landesinnere.

Pause am Fluss – die Temperaturen bewegen sich tagsüber um die 31°C und nachts kühlt es auf bis 23°C runter, was sehr angenehm zum Schlafen ist!

Reifenpanne Nummer 4, wieder an Noras Hinterrad – ich kann kaum glauben dass ich noch immer keinen einzigen Platten eingefahren habe!
Tamil Nadu bedeutet übersetzt „Land der Tamilen“; hier sprechen die Menschen Tamil wie im Norden Sri Lankas. Mit indischen Touristen aus dem Norden die Hindi sprechen, unterhalten sich die Menschen hier in Englisch. Was die Provinz landschaftlich nicht bieten kann, kompensiert sie mit den vielen eindrucksvollen Tempeln, die in fast jedem grösseren Ort in die Höhe ragen. Es sind die Überreste hinduistischer Anlagen, welche von vergangenen Königreichen zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert errichtet wurden. Noch heute sind diese teils immensen Glaubensstätten in regem Gebrauch und ziehen vor allem unzählige Pilger aus dem ganzen Land an. Gerne beobachten wir jeweils das bunte Treiben um die Tempel. Grosse Reisegruppen aus allen Gesellschaftsschichten drängeln sich durch die weitläufigen Anlagen, verschmelzen mit den fast-kahlgeschorenen, halbnackten Priestern, grimmig dreinblickenden, barfüssigen Pilgergrüppchen, Krimskrams-Anhänger Verkäufern und dem gelegentlichen Bettler zu einer bunten, elastischen und lautstarken Masse, welche sich schwerfällig vorwärts schiebt. Wir lassen uns mit treiben, halten dann und wann kurz inne und suchen uns einen guten Ort um zu verweilen und dem faszinierenden Treiben zuzuschauen. Auch die grossen Türme sind sehenswert, sind diese doch oftmals mit unzähligen hinduistischen Figuren bestückt. Die Details beim genauen Hinsehen sind echt beeindruckend.

Der Hinduismus ist für uns ein Buch mit sieben Siegeln und sehr verwirrend – ein genauerer Blick auf die Fassade der Türme macht es nicht besser…
Nach sieben Velotagen erreichen wir am 24. Dezember die eine Million Einwohner zählende Stadt Madurai. Nachdem wir in so vielen Orten eine überraschend hohe Anzahl an christlichen Kirchen vorgefunden haben, hofften wir auf etwas mehr Weihnachtstimmung in diesem Jahr als die letzten zwei Jahre. Damals konnten wir weder bei den Muslimen im Iran 2013 noch bei den Buddhisten in Thailand 2014 unsere Glaubensgenossen auftreiben. Doch auch hier bei den Hindus ist nicht viel zu machen, im Zentrum Madurais findet sich lediglich eine etwas seltsame protestantische und eine verschlossene katholische Kirche. Immerhin wurden auf der Strasse vor einer Kirche in Puducherry sogar knallbunte Krippenfiguren und hübsche Papier-Lichtsterne verkauft. Na, dann müssen wir wohl warten bis wir wieder zu Hause sind mit dem Weihnachtenfeiern.
Mit den Velos fahren wir also wieder zurück in unser Hotel und übergeben die treuen Reisegefährten dem netten Parkwächter. Cycle, cycle meint dieser begeistert, wackelt mit seinem Kopf und setzt sich mit seinem Klappstuhl direkt daneben, bereit seine Aufgabe auszuführen, koste es was es wolle. Auch eine Eigenheit Indiens: Die Inder nehmen ihnen gestellte Aufgaben enorm ernst, wir sind uns sicher dass er unsere Velos keine Minute aus den Augen lassen wird. Beruhigt lassen wir die Velos und den Strassenlärm hinter uns, verschwinden ins Hotelzimmer und lassen Indien für einige Stunden Indien sein.
Juhui Ihr Liebe! Schöni, spezielli Bilder und e superspannende Bricht mit sehr ähnliche Gfüühl, wie ich Indie (scho laaaang här, hihi) in Erinnerig ha, mi Kulturschock isch aber sicherlich um einiges grösser gsy, directly from Switzerland und als Kind 🙂 – schön, dass Ihr so guet vorbereitet in das spezielli Land chöned idauche, gänd trotzdäm gaaanz fescht Sorg. Briederli, Di drugg ich auch uf däm Wäg no ganz fescht, ich wünsch Dir ganz e schöne Geburtstag mit e Huffe schöne Idrügg und tolle Erläbnis. Big Hug Euch beidne!
Hey Schwesterli,
Merci vielmols für din Kommentar und dini Geburiwünsch! Jo, i glaub e bessere Momänt häts nid gäh zum Indie zbsueche, nach all dere Zyt unterwägs und im chaotische asiatische Gebiet cha me Indie sicherlich besser näh als direkt us dr geordnete Schwiz izfliege!
Hoff dr händ schöni Weihnachte chöne fyre, gniessed die freie Däg und göhnds ruhig a.
Big hug zrugg!
Wahnsinn einfach Wahnsinn, dieses Indien. Man muss es gesehen haben um es zu glauben. (Dank Euch halt nur in Bildern…) Da soll doch noch jemand kommen und sagen, es stünden zu viele Heiligen-Statuen in kath. Kirchen herum (s. Titelbild etc.). Übrigens, das Hakenkreuz ist ja in Indien das “Sonnenkreuz” bei dem die äusseren Balken nach links gehen. Die Nazis haben dieses uralte Symbol missbraucht und die äusseren Balken nach rechts gedreht. Schade, denn sobald man dieses Symbol sieht, z.B. auf Weihrauchstäbchen-Verpackungen, bringen wir es sofort mit den Nazis in Verbindung, obwohl die Balken auf diesen Verpackungen nach links gehen. Thema Velos: Danke für das Bild der offenen Schachtel, ich fragte mich nämlich schon eine Weile, wie die da drinnen wohl verpackt sind. Ihr seid ja wieder einmal die Einzigen, die dort Velofahren, also Exoten (s. Videos, übrigens toll gelungen).
Das Bild mit dem anscheinend uralten Baum am Fluss (mit Nora) hat mir sehr gefallen.
Danke vielmals für diesen aussergewöhnlichen Blog (wie immer). Viele herzliche Grüsse und möge das neue Jahr Euch weiterhin mit Schutzengeln zur Seite stehen, und Euch “safe” bald nach Hause bringen!
Mary-Jones
Namaste, Namashkar ihr zwei Lieben Tollkühnen, wir sind total begeistert wie ihr unser altes Indien packt. Die Fotos sind spitze, der Bericht ist spitze und die Videos super spitze. Ihr seid gut vorbereitet gewesen um einen Teil dieses riesigen Subkontinent zu bereisen, besser geht’s nicht. Wir wünschen EUCH weiterhin eine wahnsinnig schöne Zeit, es müssen ja nicht weiterhin täglich 11
1km pro Tag sein. Fühlt euch.😃 umarmt GISELA&ACHIM
Nalla paar am Gute Reise
Nalla paya am Gute Reise
Danke ihr zwei Liebe für dä spannendi Bricht. Indien schiint jo würklich en grossi herusforderig zsi…
Beeidruckt het mi au euer Erläbnis i däm Slum…i stuun wieder und wieder ab dene vielne schöne Begägnige mit de Mensche.
Gäbet Sorg, gniesset jede Dag und hebets guet.
Adeeee
Bi Euerne Filmli chömme mim Mami au grad Erinnerige an das unglaubliche Indie füre..
Liebe Götti,i stuun, wien ihr zwüsche de Chüeh durefahre miend und finde super, dass Du no kei Platte gha hesch!
E liebe Gruess vom Jannis
Ihr Liebe Zwei
jetz sind ihr ändi Johr 2015 doch no an dr Südspitze vo Indie acho. Gniesset über’s Neujohr dä bsunderi Ort, das mag ich eu vo Härze gönne!
Die Film sind dasmol dr Hit. S’Hup-Konzärt und s’Gwusel, wo ihr eso cool eifach tüend mit de Velos durefahre…isch eimolig..
Jo, i liese gärn, dass es euch wohl isch in Südindie, dass es schön flach isch zum ohni grossi Asträngig könne in d’Pedale trampe, gäll Nora, super.
Und eimol mehr bekömet ihr eso viel mit vom Läbe und vo dr ganz andere Kultur & Religion in däm Kaleidoskop “Indien”. Jo, Miguel hesch rächt, nur für das Land würd me es ganzes Läbe bruuche, um s’Wäsentliche chönne gseh und vor allem begriffe…(wenn ich Euch jo mängisch scho gseit ha: für d’Stadt Rom ganz z’entdecke bruuchsch mehr als eis Läbe..hihi! Wie also ischs erscht mit Indie??)
Siget umarmt und bis gli gli!
Guido
HAPPY NEW YEAR
Ich wünsch Euch ganz viel Glück im neue spannende Joor.
Bisous
Nathalie